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Meine Tante Anni und ihr ungewollter, unehelicher Bankert

Bayern, Heimat, Tradition, Brauchtum - gestern, heute, morgen

Heute ist jedes dritte Kind unehelich. Früher war es eine Schande

Da ich meine Ferieneindrücke bei Tante Resi aus der Hofleiten bei Rosenheim bereits auf dieser Plattform kundgetan habe, möchte ich es nicht versäumen, über die andere, ein Jahr jüngere Schwester meiner Mutter, ein paar Erinnerungen aufzufrischen. Tante Anni war meine Firmpatin und wohnte in Kolbermoor (Landkreis Rosenheim). Sie war mit Hans Sigl verheiratet und hatte zwei Kinder. Ein uneheliches, das sie mit knapp 16 Jahren bekam, Resi hieß und nicht bei ihrer Mutter aufwuchs. Hansi war der Kronprinz und bekam dementsprechend die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern. Dafür sorgte schon Onkel Hans. Er wollte mit dem  "ledigen Bankert" nicht viel zu tun haben. So verbrachte Resi ihre Kindheit auf dem landwirtschaftlichen Anwesen ihrer Großeltern in Lohen Gemeinde Vogtareuth. Anni war eher Schwester als Mutter für ihre Tochter.  Als sie heiratete verblieb Resi dort, denn sie war immer der Zankapfel und konnte ihrem Stiefvater nie etwas recht machen. Um des lieben Friedens Willen tolerierte meine Tante Anni die Ungerechtigkeiten und Sticheleien, obwohl sie im geheimen sehr darunter litt. Aber so war es damals. Eine Frau hatte zu kuschen, ob es ihr gefiel oder nicht.  Der zehn Jahre ältere Kindsvater, ein Knecht auf dem Strasser-Hof in Lochen Gemeinde Vogtareuth, wollte sich um sein Kind kümmern, durfte aber nicht. Mein Opa sorgte dafür, dass er sich von Resi fernhielt. Als bekannt war, dass Anni ein Kind von ihm erwartete,  jagte ihn Opa vom Hof. Als die Wehen einsetzte, verpasste ihr Opa beziehungsweise ihr Vater noch eine saftige Watsche, weil sie mit dem ledigen Bankert große Schmach über die Familie bringe So erzählte es mir zumindest meine Mutter und später auch meine Cousine Resi, die ihn im Erwachsenenalter ausfindig machen konnte und Kontakt mit ihrem leiblichen Vater aufnahm. Er hatte Frau und Kinder, aber trotzdem freute er sich sehr, Resi kennen zu lernen.  Eines möchte ich noch anmerken. So sehr mein Opa Josef Strasser anfangs gegen die Schwangerschaft seiner unmündigen Tochter Anna wetterte, so sehr liebte er später Resi. Sie wurde sein absolutes Herzipopperl , über die er nichts kommen ließ. Meine Mutter behauptete sogar, dass er sie seinen eigenen Kindern vorzog. 

 

Aber jetzt zu meinem Verhältnis zu meiner Tante Anni beziehungsweise meine Erinnerungen an sie.

Ich mochte meine Tante Anni besonders wegen ihrer Kassler-Ripperl

Was ich mit Tante Anni besonders in Verbindung bringe, sind die Kassler-Ripperl, die es immer zur Brotzeit gab, wenn wir sie in Kolbermoor besuchten. Es war eine meiner Leibspeisen, die es wert waren, ein paar Stunden Verwandtenkonversation auf sich zu nehmen und dabei immer wieder zu hören, wie groß man seit dem letzten Besuch schon wieder geworden ist. Natürlich gab es auch selbst gebackenen Kuchen und Limonade. Ihr Sohn Hansi distanzierte sich etwas von mir. Ich hatte das Gefühl, dass er mit Mädchen nicht allzu viel zu tun haben wollte. Zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mir war es egal, Hauptsache es gab Kassler-Ripperl. Tante Anni und Onkel Hans arbeiteten beide in der 1860 vom Ingenieur Theodor Hassler gegründeten Baumwoll-Spinnerei, die noch 100 Jahre später ein sehr begehrter Arbeitgeber war. Sie stellte ihren Arbeitnehmern  günstige Wohnungen zur Verfügung. Hans und Anni Sigl wohnten in der Hasslerstraße 4. Jedes mal, wenn wir sie besuchten, machten wir einen Spaziergang dorthin oder an den Mangfall-Damm. 

Wenn Geschwister nur ab und zu zusammenkommen, besteht natürlich jede Menge Gesprächsbedarf. So auch bei Tante Anni und meiner Mama, die zudem eines Tages ein besonderes Anliegen an sie vorzutragen hatte. Nämlich die Frage, ob sie meine Firmpatin sein wolle. Für sie wäre es Ehrensache, so ihre Antwort. Sie mache es sehr gerne. Gesagt, getan. Mich hingegen plagte in dieser Angelegenheit ein anderes Problem. Während andere Mädchen zur Firmung neue Kleider bekamen, musste ich mein Kommunionkleid anziehen, das Tante Resi, die Näherin war, vorsorglich so weit eingenäht hat, dass man nur den Saum auftrennen musste, um es passend zu machen. Na ja, das war halt das Los, die Tochter armer Schlucker zu sein. Trotzdem wurde meine Firmung ein unvergesslicher Tag. Onkel Hans hatte sich extra einen VW-Käfer ausgeliehen. Das kirchliche Zeremoniell fand in der Christkönigkirche in Rosenheim statt. Danach fuhren wir nach Marquartstein im Landkreis Traunstein. um dort in einem gut bürgerlichen Gasthaus das Mittagessen einzunehmen. Ich habe mir einen Schweinebraten mit Semmelknödel bestellt. Danach gondelten wir gemütlich durch die schöne oberbayerische Bergwelt wieder nach Hause. Tante Anni wurde ihrem Amt als Firmpatin mehr als gerecht. Sie schenkte mir zu meiner großen Freude eine hochwertige Junghans-Armbanduhr. Leider habe ich Schussel diese einige Jahre danach nach dem Baden am Hofstetter-See liegen gelassen. Beziehungsweise ist sie mir wahrscheinlich beim Zusammenlegen der Decke auf die Liegewiese gefallen. Obwohl ich sofort nachdem ich mein Missgeschick bemerkt habe, zurück geradelt bin, habe ich sie zu meinem Leidwesen nicht mehr gefunden.  Jemand anderer wird seine Freude daran gehabt haben. Das durfte und hatte meine Tante jedoch nie erfahren. Sie wäre sehr enttäuscht gewesen von mir, dass ich nicht besser darauf aufgepasst habe.

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Plötzlich gab es neben Mausi noch einen Burli

Dass Schicksal wollte es so, dass Tante Anni plötzlich noch enger mit uns verbunden sein sollte. Das kam so: Sie wurde im fortgeschrittenen Alter nochmal schwanger. Und das zeitgleich mit ihrer Schwiegertochter Hedwig, also der Frau ihres Sohnes Hansi. Das Kuriose dabei war, dass der Enkel eher auf die Welt kam als der Onkel und Bruder Kurti. Trotz der Freude über einen gesunden Buben war sie in einer Zwickmühle. Sie wollte eines Teils bei ihrem Kind zuhause bleiben, aber andererseits bei der Spinnerei weiterarbeiten, damit sie den Anspruch auf ihre Rente nicht verliert beziehungsweise ihr diese Erziehungszeit nicht abgeht. Wer weiß, ob sie danach noch weiter dort hätte arbeiten können, zumal dies gesetzlich noch nicht abgesichert war. So fragte sie meine Mama, ob  Kurti von Montag bis Freitag bei uns bleiben könne. Am Samstag holte ihn Onkel Hans, eingepackt in ein Fahrradkörbchen mit dem Moped ab, um wenigstens das Wochenende mit ihrem kleinen Sohn verbringen zu dürfen. Am Sonntag Abend brachte er ihn uns wieder zurück. Im Sommer war es ganz schön und klappte auch recht gut,  aber im Winter war es nicht immer realisierbar. Für mich war es von jetzt auf gleich eine gravierende Umstellung, zumal ich als Einzelkind plötzlich mit dem neuen Cousin einen Quasi-Bruder hatte. Obwohl ich ihn mit der Zeit mochte, ja sogar sehr liebte, hätte ich ihn manchmal zum Mond schießen können. Alles drehte sich nur mehr um ihn - Kurti hin, Kurti da!  Ich konnte und wollte nicht akzeptieren, dass ich, die von meinem Papa nur liebevoll  "Mausi" genannt wurde, wegen dem neuen "Burli" namens Kurt zurückstecken sollte. Aus meiner Sicht spielte ich plötzlich nur mehr die zweite Geige. Da wir nur eine kleine Wohnung hatten, die für drei Personen schon sehr eingeschränkt war, musste ins 12 Quadratmeter große Schlafzimmer noch ein Bettstadl (Babybett) gleich hinter das Ehebett meiner Eltern gestellt werden. Ich war mit dieser Situation total überfordert. Als ich dann noch beim Herumturnen auf den Lattenrost fiel und dieser im Eimer war, gab es ein Riesendonnerwetter seitens meines Vaters. Ich fand das ungerecht und war stinksauer auf Kurti, meine Eltern und auf Gott und die Welt. Die Eifersucht hatte mich fest im Griff, sodass ich kurzzeitig den Gedanken fasste, auszuziehen. Den verwarf ich aber schnell wieder, als mir klar war,  dass dies Unsinn war. Wohin sollte ich mit zehn Jahren denn ziehen? Ich sah schließlich ein, dass Kurti nichts dafür konnte. Er war ja noch ein Baby. Und ein liebes und drolliges noch dazu. Leider verstarb er kurz vor Weihnachten im Alter von einem Jahr und zehn Monaten. Es war ein Schock für uns alle, als Onkel Hans mitten in der Nacht an unser Schlafzimmerfenster klopfte und bitterlich weinte. Unter ständigem Schluchzen erzählte er uns, dass Kurti stark erkältet war. Es wurde von Stunde zu Stunde schlimmer. Obwohl er ein paar mal den Arzt anrief, was zu dieser Zeit noch ziemlich umständlich war, kam dieser nicht. Er ist dann sogar zu ihm hingefahren und hat ihn eindringlich gebeten, zu kommen und Kurti zu untersuchen. Als er dann endlich eintraf, war es zu spät für Kurti. Er starb am 19. Dezember 1959 zuhause in Kolbermoor und wurde zwei Tage vor Weihnachten im Friedhof in Kolbermoor beerdigt. 

Wenn ich heute darüber nachdenke, dann wäre es sinnvoller gewesen, wenn Tante Anni damals zuhause bei ihrem kleinen Buben geblieben wäre. Sie hat das Rentenalter nicht erreicht und deshalb nicht von ihren Beiträgen, weswegen sie weiter gearbeitet hat und ihren Kleinen meinen Eltern zur Betreuung gegeben hat, profitiert. Eine Kinderkrippe hat es damals meines Wissens noch nicht in Kolbermoor gegeben. Tante Anni wurde so ein typisches Beispiel für das Sprichwort: "Der Mensch denkt und Gott lenkt!" oder "Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt! " Aber da keiner weiß, wie es verläuft, ist im Leben nur eines sicher: Es ist nicht planbar! 

Gemischte Gefühle zwischen Esslust und Eifersucht

In meinen Erinnerungen haften geblieben sind nicht nur die  Ferien bei Tante Resi in Hofleiten bei Rosenheim sondern auch bei Tante Anni in Kolbermoor. Bei ihr waren  es vorwiegend die schon erwähnten Kassler-Ripperl, meine damalige Lieblingsspeise. Ich muss dazu insbesondere erwähnen, dass ich als Kind eine ausgeprägte Esslust hatte, die mich antrieb, die Ferien bei den Verwandten in Kolbermoor zu verbringen. Meine Eltern setzten mich damals in Rosenheim in den Zug und Tante Anni holte mich am Bahnhof in Kolbermoor ab. Das klappte ganz gut. Kurti war damals auch ein Grund, die Ferien mit ihm zu verbringen. Was ich zudem auch äußerst interessant fand, war das Gemeinschaftsklo auf der Zwischenetage, was in Mietshäusern damals Standard war. Für Tante Anni war mein Aufenthalt bei ihr meines Erachtens eine Win-Win-Situation, wie man heutzutage so schön sagt. Sie ging davon aus, dass ich mich ausschließlich mit Kurti beschäftige, damit sie ungestört ihren Haushalt verrichten konnte. Mein Verständnis von Ferien war jedoch ein anderes. Ich wollte nicht immer den kleinen Knülch an der Backe haben, sondern auch mal das machen, was ich gerne wollte - zum Beispiel ein Buch lesen. Als Kurti wieder einmal quengelte und schrie wie am Spieß,   schob Tante Anni mir die Schuld daran zu und schimpfte mich. Da platzte mir der Kragen und es  war endgültig Schluss mit lustig. Ich verzog mich beleidigt auf das Etagenklo, wo ich meiner Enttäuschung und vor allem meinen Heimweh mit heftigen Weinen Luft machte. Als sie bemerkte, wo ich war, klopfte sie an die Toilettentür, um mich versöhnlich zu stimmen und zum herauskommen zu bewegen. Ohne Erfolg - ich stellte mich stur und blockierte mindestens eine Stunde das Stille Örtchen. Danach wollte ich sofort nach Hause, denn ich hatte ohnehin schon sehr "Zeitlang", wie man in Bayern sagt, wenn man sich an sein Zuhause und die Menschen die man mag, zurücksehnt. Ich gab keine Ruhe, bis mich Onkel Hans mit dem Zug nach Rosenheim und anschließend mit dem Bus heim nach Aign brachte. Danach war das Thema "Ferien bei Tante Anni" ad acta gelegt. In diesen Dingen konnte und kann ich bis heute sehr nachtragend sein. 

Dennoch denke ich noch manchmal an Tante Anni zurück, die eigentlich ein Familienmensch war. Als sie am 5. November 1979 im Alter von 63 Jahren verstarb, hatte sie ihren Lieben eine Truhe voller Weihnachtsplätzchen hinterlassen, die sie wie jedes Jahr verteilen wollte. Es waren sage und schreibe 36 Sorten - eine köstlicher als die andere. Ob sie gegessen wurde, weiß ich nicht, denn den Angehörigen war sicher nicht nach Weihnachten zumute. Sie fehlte sehr, denn sie war deren Mittelpunkt 

Dass sie ein glückliches Leben geführt hatte, bezweifle ich. Ich denke, dass sie zeitlebens Schuldgefühle gegenüber ihrer Tochter Resi geplagt haben, die nicht bei ihr aufwachsen durfte. Wenn sie zu Besuch war, hieß es bei Onkel Hans nur, "die sell" hat wieder dies und das gesagt oder gemacht. Er ließ kein gutes Haar an ihr, obwohl sie sich nichts zu schulden hat kommen lassen. Nie hat er sie beim Namen genannt oder ein liebes oder lobendes Wort für sie übrig gehabt. Ich glaube auch, dass ihr Sohn Hans unter dieser unguten Situation gelitten hat. Onkel Hans ist am 20. Mai 1982  im Wirtshaus beim Kartenspielen vom Stuhl gefallen und war tot. Er wurde 73 Jahre alt. Meine Cousine Resi Klappstein hat einen Mann geheiratet, der sie kontrollierte und piesackte. Als Beispiel erzählte sie mir, dass die Falten der Wohnzimmervorhänge in exakt gleichen Abständen auseinanderliegen mussten. Leider blieb ihr der Kinderwunsch versagt. Die Ehe ging schließlich in die Brüche. Beim gerichtlichen Scheidungstermin lernte sie ihren zweiten Lebensgefährten kennen. Mit ihm bekam sie ihre über alles geliebte Tochter Sabine. Leider ging diese Verbindung auch in die Brüche. Als Sabine heiratete und mit ihrem Mann Kurt ein Haus Nähe Tegernsee baute,  holte sie ihre Mama zu sich. So durfte Resi ihre Enkelinnen Magdalena und Johanna noch heranwachsen sehen, die ihr viel Freude bereiteten. Sie starb am 12. August 2017 im Alter von 84 Jahren im Krankenhaus Agatharied bei Hausham. Im Beisein ihrer Tochter schlief sie friedlich ein und war von ihren vorausgegangen, schlimmen Schmerzen erlöst. Ihr vier Jahre jüngerer Bruder Hans Sigl aus Kolbermoor starb am 6.November 2017,  also knapp drei Monate nach ihr.

Die Familie Sigl aus Kolbermoor (Landkreis Rosenheim) Hasslerstrasse 4

Bildunterschriften von links: Hansi Sigl, Kurti Sigl, Sterbebild Onkel Hans Sigl , Sterbebild Tante Anni, Baumwollspinnerei Kolbermoor, Sterbebild Cousin Hans Sigl und Sterbebild Cousine Resi